Vom Auftauchen und Verschwinden

Text und Musik – Was hat Vorrang?

Die bürgerliche Gesellschaft zeichnet sich durch Dichotomien aus, deren Teile einander scheinbar autonom gegenüberstehen: Kunst und Natur, Arbeit und Freizeit, Tauschwert und Gebrauchswert, Raucher und Nichtraucher, Erbauung und Unterhaltung und was da mehr. In der Musik finden wir diese Gegenüberstellung im sprichwörtlichen Titel der einaktigen Oper Antonio Salieris (1750-1825) „Prima la musica e poi le parole“ (erst die Musik und dann die Worte). In dieser kleinen Komödie macht sich sein Librettist über das Theaterleben und die Konkurrenz und Intrigen der Beteiligten lustig, der Titel spielt darauf an, dass ein routinierter Tonsetzer sich Texte auf schon vorhandene effektvolle Melodien schreiben lässt.

Salieri selbst sah sich der Opernreform Glucks (1714-1787), mit dem er befreundet war, verpflichtet, die den Text in den Mittelpunkt stellte und der Musik die Aufgabe zuwies, die dramatische Entwicklung der Handlung und der Handelnden zu illustrieren. Das war am Anbeginn der bürgerlichen Musik eine Reaktion auf das Virtuosentum der barocken opera seria mit Koloraturen und Kastraten und dem Repräsentieren der herrschenden Adelshöfe. Die Betonung des Texts, der die Entwicklung der Helden zum Inhalt hat, entspricht der Entstehung und Durchsetzung des bürgerlichen Dramas, aber auch einer anderen neuen Kunstform, die mit der neuen Gesellschaft auftauchte, dem Roman. Beiden Kunstformen gemeinsam ist die Bildung und Entwicklung, die historisch-moralische Darstellung. Reine parodistische Unterhaltung und Satire wird nun nicht mehr anzutreffen sein wie noch bei Don Quixote oder Simplicissimus.

Aber kommen wir zur Musik zurück. Ich habe schon weiter oben in der Serie das Kunstlied angesprochen, das nun als neue musikalische Gattung entstanden ist. Schubert hat mit romantischer Geschwätzigkeit und hoher psychologischer Einfühlungsgabe vorgeführt, wie der Text von der Musik betont, illustriert und gefördert wird. In seinem Gefolge wird eine Gesangsliteratur für SolistInnen und Chöre entstehen und ein breiter Dikurs über den richtigen Vortrag des Lieds entstehen – nicht nur was die Kompositon im Hinblick auf die Textvorlage, sondern auch was die Unterordnung oder Begleitung des Klaviers zur Virtuosität der Singstimme betrifft.

Ähnliches finden wir bei der Oper. Von Gluck über Wagner und seinen italienischen Gegenspieler Verdi bis zum verismo der Jahrhundertwende und noch danach finden wir die Forderung nach der musikalischen Beachtung des Textes, seiner psychologischen Durchdringung mit musikalischen Mitteln (was schon mit Gluck und Mozart und vorher auch teilweise mit Bachs Oratorien beginnt).

Daneben existiert aber noch immer die neue musikalische Form der Symphonie, die der absoluten Musik verpflichtet ist. Hier können wir das gegenteilige Phänomen beobachten: Der Chor des vierten Satzes der neunten Symphonie Beethovens mit der Vertonung des von ihm umgestellten und redigierten Schillertextes „Ode an die Freude“ erscheint nahezu als Untermalung der ersten drei Sätze der Symphonie; grad so, als dürfte der Gesang zum Schluss noch seinen Beitrag zur Musik leisten – zu einer Musik, die vor dem Beitrag der SolistInnen und des Chores schon alles gesagt hat (wenigstens interpretiere ich so die Neunte). Ähnlich geht es bei Gustav Mahler zu, wo der Gesang in die musikalische Gesamtanlage der Symphonien untergeordnet ist, grad so, als wären Chöre und SolistInnen nichts als andere Orchesterinstrumente.
                                   
In der absoluten Musik wird der Gesang – solistisch oder chorisch – nur noch instrumental gebraucht oder als Höhepunkt des Orchesterwerkes. Typisch ist Beethovens Chorphantasie, die mit einem nahezu impressionistischen Klaviersolo beginnt, gefolgt vom Orchester, dann von Gesangssolisten, dann vom Chor, und so mit dem größten Musikapparat und im Marschtempo endet. Da stellt sich dann die Frage nach der Bedeutung der Textvorlage. Das Melodram Schönbergs „Pierrot Lunaire“ nimmt hier noch eine Zwischenposition ein. Einerseits wird bewusst auf klassischen Gesang verzichtet, andererseits wird der expressive Sprechgesang, mit dem die Gedichte zur Musik vorgetragten werden, in den neuen stilistischen Aufbruch der Atonalität eingebettet. Der Vortrag des Texts deutet an, in welche Richtung es gehen wird: Die Textvorlage wird zum Fundament von nichttextlicher Gestaltung.

Vor allem aber die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland mit dem musikalischen Zentrum der Darmstädter Ferienkurse stellte die Frage nach der menschlichen Stimme als Instrument. Wo die serielle Komponierweise die Zwölftonmusik weiterentwickelte und auf alle anderen musikalischen Elemente ausweitete, da blieb auch der Gesang nicht davon verschont. Dies ging zu Lasten der Textvorlagen, die immer geringere bis gar keine Rollen mehr spielten. Ich möchte, um diese Entwicklung zu illustrieren, aus dem Programmheft einer Aufführung vom 21. März 2017 zitieren. Gegeben wurde das Stück „Skin“ für Sopran und 15 Instrumente von Rebecca Saunders.

Die Komponistin schreibt dazu im Programmheft: „Der zentrale Text von ,Skin‘ stammt von mir, er entstand sukzessive während des langen kompositorischen Prozesses und ist zum Teil von der intensiven Zusammenarbeit mit Juliet Fraser (der Sopranistin, G. W.) inspiriert. Ein Abschnitt aus James Joyces’ ,Ulysses‘, aus dem letzten Absatz von Molly Blooms Monolog, wird gegen Ende von ,Haut‘ zitert.“ Die Einführung in das Stück schließt im Programmheft mit den Worten: „Auf Wunsch der Autorin und Komponistin soll ihr Text für das Publikum nur akustisch wahrnehmbar und daher in diesem Programmheft auch nicht abgedruckt werden.“

Die Kompositions- und Gesangstechnik lässt das Publikum aber ohnehin nicht mehr erkennen, ob hier Text vorliegt oder nicht. Ondřej Adámeks Stück „,Ça tourne ça bloque‘ pour ensemble et électronique“ (um ein anderes Beispiel zu zitieren) zeigt den verwendeten Text nur noch als Element einer Installation mit Musik (oder Musik mit Installation). Was gehört wird, ist aber kein intelligibler, verstehbarer Text mehr. Der Text wird als solcher nur noch in der Projektion auf die Leinwand erkannt, führt aber so die Musik über sie hinaus zur Multimediashow.